Vom 11. bis 30. Juli 2003 fand im Deutschen Literaturarchiv die erste ›Sommerschule Literaturwissenschaft in Marbach‹ statt. Die Sommerschule ist ein gemeinsames Projekt des Deutschen Literaturarchivs, der Universität Stuttgart, der University of Wisconsin/University of Minnesota und des DAAD – initiiert, organisiert und geleitet von Christoph König (Marbach) und Horst Thomé (Stuttgart). Frau Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundeskanzler und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, hatte die Schirmherrschaft übernommen. Der Rektor der Universität Stuttgart eröffnete die Sommerschule.
In ihrem Grußwort nimmt Christina Weiss das Motiv der Sommerschule auf, dem qualifizierten Nachwuchs eine Plattform zum Austausch und zur Weiterbildung zu geben, gleichzeitig aber auch forschungspolitische Fragen historisch zu reflektieren, also Kernkompetenzen zu stärken und wissenschaftsgeschichtlich den Sinn für Verantwortung zu schärfen: »Die Gesellschaft stellt prägnante Erwartungen an eine Universität, verschiedene Hochschulmodelle konkurrieren miteinander. Die Marbacher ›Sommerschule‹ sucht nach Anregungen, die über ihr engeres fachliches Thema hinausgehen. Dennoch wird auch über den eigenen Stand reflektiert, über die internationale Elite des germanistischen Nachwuchses und die Perspektiven der Förderung. [..] Ein geeigneterer Ort als Marbach scheint in Deutschland für ein solch zukunftsweisendes Unternehmen der geistigen Frische kaum denkbar.«
Die Konzentration auf den Kern des Fachs Germanistik: auf die deutsche Sprache und Literatur, führt zu einem konsequenten Brückenschlag über die Grenzen eines Fachs, einer Institution und eines Landes hinaus. Die Dozenten kommen aus verschiedenen Disziplinen: Deutsche Literaturwissenschaft, Klassische Philologie, Religionswissenschaft, Hermeneutik, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Die Institutionen, die zusammenarbeiten, haben alle ihre eigene Logik und ihren eigenen Erfahrungsschatz auf den Gebieten der Forschung, der Quellen, der Bildung, der Nachwuchsförderung. Die Verbindung dieser Profile erweist sich als ideal: das Deutsche Literaturarchiv als bedeutendstes Quellen- und Forschungsinstitut für die neuere deutsche Literatur und Literaturwissenschaft mit seiner Arbeitsstelle für Wissenschaftsgeschichte, das Stuttgarter Institut für Literaturwissenschaft mit seinem prägnanten komparatistischen Profil, das Literatur- und Wissenschaftsforschung verbindet; das Center for German and European Studies (Madison, Minneapolis) mit seinen interdisziplinären Cultural-studies-Projekten und der Deutsche Akademische Austauschdienst mit seinen ausgezeichneten internationalen Netzen der Wissenschaftskommunikation und seiner langen Tradition der Förderung des hochqualifizierten Nachwuchses; der DAAD betrachtet die ›Sommerschule‹ als ein eigenes Projekt. Schließlich vertreten die LiteraturwissenschaftlerInnen, die dann an der Sommerschule teilnahmen, gänzlich verschiedene Lebens- und Wissenschaftskulturen.
Die Sommerschule wurde zu Beginn des Jahres 2003 für junge Literaturwissenschaftler ausgeschrieben, die ihr Studium beendet haben und eine Promotionsarbeit planen. Ein Faltblatt, ein Plakat und eine Internetseite (www.sommerschule-literaturwissenschaft.de) dienten als Werbemittel: alle germanistischen Institute und Rektorate in Deutschland wurden damit versorgt, der DAAD bat seine 470 Lektoren, international zu werben, unsere eigenen Adressendateien wurden benutzt, in der ZEIT erschien eine Anzeige und die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ berichtete (22.3.2003): Brigitte Schöning war für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich.
Auf Anhieb bewarben sich 150 Nachwuchswissenschaftler aus 37 Ländern der Welt. Der Beirat der ›Sommerschule‹, der aus Vertretern der beteiligten Institutionen und des Marbacher Arbeitskreises für Geschichte der Germanistik sowie einer vom Direktorium der ›Sommerschule‹ kooptierten Expertin besteht, traf sich am 24./25. Mai 2003 in Marbach und wählte aus den Bewerbungen die 21 besten aus, die insgesamt 14 Nationen angehörten: Ägypten, Brasilien, China, Deutschland, Georgien, Indien, Italien, Kanada, Polen, Rumänien, der Schweiz, Spanien, Togo und den USA. Im einzelnen nahmen teil: Akila Ahouli, Philip Ajouri, David Deißner, Haimaa El-Wardy, Marija Euchner, Brigitte Häring, Jennifer Hoyer, Wei Hu, Steve Krause, Elisabetta Mengaldo, Juliana Perez, Corina Petrescu, Tomasz Rajewicz, Thorsten Ries, Roberto Sanchino Martinez, Martin Schuhmann, Barbara Stiewe, Pratibha Suresh Thakur, Crenguta-Beatrice Trinca, Levan Tsagareli und Lanlan Xu.
Im Rahmen der Beiratssitzung im Mai wurde auch das Programm festgelegt und insgesamt das Modell der ›Sommerschule‹ verfeinert, zu dessen Ingredienzien vor allem zählen:
Alle Dozenten und Studenten nehmen an allen Sitzungen teil: damit entsteht eine Art perennierendes Symposion. Die sechs Hauptdozenten (Klaus L. Berghahn, Pierre Judet de La Combe, Christoph König, Renate Schlesier, Horst Thomé, Ulrich Wyss) waren während der gesamten drei Wochen anwesend.
Drei Phasen gliedern die Sommerschule: Seminare – Bibliotheksarbeit der Stipendiaten (samt Tutoring) – Abschlußkolloquium; die Bibliothek und (etwas weniger) die Handschriften des Deutschen Literaturarchivs wurden von den Teilnehmern so oft als möglich genützt: künftig soll dafür – ein Wunsch aller – noch mehr Gelegenheit geschaffen werden. Durch das Abschlußkolloquium, das die Teilnehmer mit Kurzvorträgen bestreiten, bleibt der Spannungsbogen bis zum Ende erhalten. Man bietet die Möglichkeit, Arbeitsproben zu geben und Fortschritte schon nach drei Wochen zu zeigen;
Jeder Dozent betreut vier bis fünf Stipendiaten intensiv in einem persönlichen Mentorensystem, wobei vor allem die Vorträge im Rahmen der Abschlußtagung im Mittelpunkt stehen. Von dieser Möglichkeit haben die Teilnehmer begierig Gebrauch gemacht;
Um das gemeinsame Arbeiten zu fördern, wird ein Gegenstand gewählt, der die Seminare durchzieht: in diesem Jahr die Atridenerzählung in der Antike und ihre Aktualisierung in der neueren deutschen Literatur. Im Zentrum standen Werke von Aischylos, Euripides, Goethe, Hofmannsthal und Volker Braun. Eine Pflichtlektürenliste erhielten die Stipendiaten mit der Einladung.
Die Seminare selbst folgen drei Gesichtspunkten: Erstens werden Konzepte und Begriffe der Literaturwissenschaft und der Wissenschaftsgeschichte analysiert, zweitens vermitteln Gastdozenten germanistisches Handwerkszeug (Edition: Norbert Oellers, Stil wissenschaftlichen Schreibens: Lothar Müller, Bibliographie: Reinhard Tgahrt, Quellenkunde: Ulrich von Bülow); die beiden Phasen der Theorie und des Metiers münden – drittens – in die philologische Praxis des Interpretierens. Öffentliche Gastvorträge (Klaus-Michael Bogdal, Jean Bollack) und die Lesung Volker Brauns gaben Gelegenheit, die Problematik um einzelne zugehörige Aspekte zu erweitern. Die Trias der Sommerschule von wissenschaftshistorisch reflektierter Konzeptanalyse, ›Metier‹ und Praxis der Interpretation ist ihre intellektuelle Grundlage;
Zwei Podiumsdiskussionen gelten der Wissenschaftspolitik. Sie geben den Teilnehmern Gelegenheit, Erfahrungen mit Kultur und Wissenschaft in ihren Ländern zu diskutieren – und auch selbst sich im Medium ›Podiumsdiskussion‹ zu üben. Die erste Diskussion widmete sich dieses Mal dem Thema ›Kultur- und Wissenstransfer zwischen den Ländern‹ und wurde von Michael Werner (Paris) geleitet; die zweite problematisierte, unter der Leitung von Joachim Umlauf (DAAD, Bonn), das Verhältnis von ›Auslandsgermanistik, Wissenschaftspolitik, DAAD‹;
Am Ende erhalten alle Teilnehmer ein Zeugnis, das ihnen neun ›credits‹ nach dem European Credit Transfer System (ECTS) zuspricht.
Das Programmheft, das die graphische Gestaltung der Ausschreibungsbroschüre aufgreift, enthielt die Geleitworte von Christina Weiss und Ulrich Ott, das Programm in allen Einzelheiten, Viten der Teilnehmer und der Dozenten sowie die nötigen praktischen Auskünfte. Auch die Internetseite wurde entsprechend aktualisiert.
Die Sommerschule gewann ihre eigene Dynamik – im Mittelpunkt standen bald die methodische Reflexion und die intensive Arbeit an literarischen und wissenschaftlichen Texten. Diese Art kritischer Interpretation erhielt durch die gegenwärtigen wissenschaftspolitischen Überlegungen zum Verhältnis von philologischer Kernkompetenz und kulturwissenschaftlicher Erweiterung der Disziplin eine – durchaus erwünschte – Aktualität. Der freie Raum, den wir geschaffen haben, wurde besonders geschätzt. Insgesamt haben wir Marbach wohl gute Freunde gewinnen können. Das alles wird in den Briefen der Teilnehmer und in ihren Gedanken sichtbar, die selbst die Atmosphäre der Sommerschule besser wiedergeben können als ein Bericht, der ein bestimmtes Maß an Freude nicht überschreiten darf; davon zeugt auch das große Presseecho in Marbach, Ludwigsburg, Stuttgart und darüber hinaus. Resümes wie das von Thorsten Ries, dem Teilnehmer aus Hamburg: »Das ist das Beste, was einem literaturwissenschaftlich passieren kann«, weisen in die Zukunft: in das Jahr 2005, denn die institutionellen Träger der Sommerschule möchten daraus eine ständige Einrichtung machen.