»Große Gedichte sind wie Subjekte, ebenso entschieden wie selbständig, und sie erheben den Anspruch, gemäß ihrer Eigenart gelesen zu werden. Sie konstituieren sich als Subjekt durch die Wahl des im Schaffensprozeß angeeigneten Materials und durch die Kraft, mit der es dieses Material prägt. Das kann freilich nicht für jedes Gedicht gelten. Zum Maßstab des ästhetischen Urteils wird der Grad, in dem die Autorschaft zurücktritt. Die vielfältigen Übergänge zwischen Gedicht, Traktat, Korrespondenz und Autor verpflichten das Gedicht zum starken, subjektiven Zugriff auf das Biographische und den Kontext im allgemeinen. Für die Veränderungen im Material, die zur Unverwechselbarkeit oder Partikularität eines Gedichts führen, verfügt es über einen Standpunkt, der außerhalb des Materials liegt, auf das es einwirken soll. Nicht in dem Sinn, daß das Gedicht ein anderes Medium wählt, sondern insofern, als die Entscheidungen, die es trifft, eine Subjektivität voraussetzen, die das Material nicht besitzt. Nur wenn man von einem Subjekt ausgeht, das in solches Material eingreift, läßt sich die Individualität der Gedichte erklären und würdigen. Das Gedicht gewinnt gerade dadurch, daß es sich in seinen Voraussetzungen behauptet, seine Konzentration.«
(Aus der Einleitung zu meinem Buch »O komm und geh«. Skeptische Lektüren der ›Sonette an Orpheus‹ von Rilke, Wallstein Verlag 2014)